Musik der Gegenwart kann nicht nur geistige Herausforderung sein, sondern auch sinnliches Erlebnis! Das beweist das Festival klangkunst gegenwärts, das 2021 zum ersten Mal an Pfingsten stattfinden wird. Das Festival hat den Schwerpunkt klangerweiterter Flügel, bzw. präpariertes Klavier, und wird alljährlich von der Hans-Karsten-Raecke-Stiftung für Neue Musik im Konzertsaal und den Ausstellungsräumen in der Königstr. 14 in Rheinsberg ausgerichtet. Ein jährlicher wiederkehrender Programmpunkt ist die „Musik für 5 Räume“ — mit immer anderen Mitwirkenden und Stücken. Bei freiem Eintritt können die Besucher einen Nachmittag lang in den Räumen der „Ausstellung für Auge und Ohr — klangkunst gegenwärts“ von Raum zu Raum gehen, Live-Konzerte erleben, den Improvisationen in allen Räumen folgen — auch mit Kopfhörer -, und dabei die Klangskulpturen, Graphischen Partituren und Neuen Instrumente in den Ausstellungsräumen betrachten. Neben zwei Konzerten mit klangerweiterten Flügeln wird es auch immer eine kulturpolitische Diskussion geben zu Fragen der Modernen Kunst.
Auszüge aus dem KLEE-BLÄTTER- Zyklus “Magische Quadrate” (für zwei klangerweiterte Flügel von Hans-Karsten Raecke)
BOTANISCHER GARTEN Zeit-Dilatation-Kanon für 6 Spieler
Die Federzeichnung mit dem Untertitel ABTEILUNG DER STRAHLENBLATTPFLANZEN ist eine Strich-an-Strich-Zeichnung aus freier Hand. In der Komposition ist die Feder ersetzt durch eine Büroklammer, an der ein Draht aufgebogen ist und deren Spitze in Stegnähe quer über die Stahlsaiten „raatscht“. Werden und Vergehen im „Botanischen Garten“ ist metaphorisch als Rauschen, Knacken und Knistern hörbar gemacht. In der vorliegenden Interpretation beginnt das Stück mit einem wogenden Rauschen und endet mit sich verlierenden Knackgeräuschen. Das vorgegebene Verhältnis von Geschwindigkeit und Zeit, im Prozess der Veränderung, erzeugt den Eindruck von Zeitdehnung. Viel Bewegung in kurzer Zeit wandelt sich in sehr langsame Bewegung in einem langen Zeitraum.
Das Bild ist als ein fein gewebtes Ineinanderfließen von Strichen wahrnehmbar, die sich zu Häusersilhouetten formen. In der Musik werden die Striche zu einem Faden gesponnen, indem ein Haargummischlegel über die präparierten Saiten gerollt wird, wobei ein geräuschhafter, aleatorischer Effekt entsteht. Er dient als Geräuschhintergrund für sich vermehrende Schlag und Geräuschimpulse, die sich in Motivketten aneinanderreihen, wie im Bild die Strichzeichnung der Häuser. Im zweiten Teil wird eine artistische Schlagzeugrepitition aufgebaut. Sehr schnelle sich steigernde Trommelimpulse, die melodisch an Arabische Musik erinnern, werden zum Schluss in den Schalllöchern mit Resonanzbodenkontakt zum Stillstand gebracht.
ARABISCHE STADT Motiv-Ketten-Kanon für zwei Schlagzeuger
KLEINER BLAUER TEUFEL Kreislauf-Kanon für zwei Schlagzeuger auf den „toten Saiten“ im Flügel
Spielfläche des Stückes sind die „toten“ Saiten zwischen Steg und Saitenbefestigung im hinteren Teil des Flügels. Die nur kleinen Anschlagsflächen werden mit zwei Hartgummischlegeln in einer artistisch, rasenden Abfolge angeschlagen. Der zweite Schlagzeuger spielt die Abfolge zeitversetzt; metaphorisch betrachtet als eine Verfolgungsjagd des kleinen Teufels durch seinen eigenen Schatten. Die Einzelanschläge im Schlussteil des Stückes werden durch extreme Pausenzunahme bei den Wiederholungen immer länger, bis sie im Nichts verschwinden. Einleitend erklingt ein Glissandoton, ein „Schreigeräusch“, als auslösendes Signal für den Lauf des Teufels.
Kontakt: festival-klangkunst-gegenwärts